VII. GOTT HANDELT IN DER GESCHICHTE

APOKALYPTIK UND MODERNE THEOLOGIE

Apokalyptik kommt von einem griechischen Wort, das einfach „Offenbarung" bedeutet. Daher wird das letzte Buch des Neuen Testamentes entweder das Buch der (Geheimen) Offenbarung oder die Apokalyse genannt. Eine Apokalyse enthält geheime göttliche Enthüllungen über das Ende der Welt und die Natur des himmlischen Daseins.

Die gemeinhin bekannten apokalyptischen Bücher sind das Buch Daniel und die Geheime Offenbarung. Aber auch in der Zeit, die zwischen der Niederschrift dieser beiden Bücher lag, haben fromme Juden viele apokalyptische Buchrollen verfaßt, die zu ihrer Zeit als religiöse Literatur hochgeschätzt, jedoch niemals in die hebräische Bibel aufgenommen wurden. Die christliche Bewegung brachte ebenfalls eine Fülle apokalyptischer Literatur hervor, doch das meiste davon wurde aus dem Kanon des Neuen Testamentes ausgeschlossen.1

Die jüdische apokalyptische Literatur entsprang dem Protest gegen die Hellenisierungsmaßnahmen des Seleukidenherrschers Antiochus Epihpanes (gest. 164 v. Ch.). In der Nachfolge Alexanders des Großen glaubte Antiochus, das die Welt auf der Grundlage des griechischen Denkens und griechischer Kultur vereinigt und befriedet werden könne. Viele höhergestellte Juden Palästinas hatten keine Schwierigkeit, sich der griechischen Art anzupassen. Sogar die Hohenpriester gehörten zur hellenisierenden Partei.

Die Pläne des Antiochus ärgerten die religiösen Traditionalisten, und fanatische Nationalisten widersetzten sich seiner Herrschaft über Palästina. Er verbot daraufhin das Einhalten des Sabbats und den Ritus der Beschneidung, ließ die Abschriften der Thora vernichten und verwandelte den jüdischen Tempel in ein Heiligtum des Zeus. Das Buch Daniel wurde damals geschrieben, um die Gläubigen in einer Zeit der religiösen Verfolgung zu trösten und zu inspirieren. Spätere Apokalypsen, jüdische wie christliche, entstanden in ähnlichen Situationen der gewaltsamen Unterdrückung, um Mut und Vertrauen auf Gottes letztlichen Triumph zu wecken.2

Die apokalyptische Weltsicht läßt sich durch einige grundlegende Aussagen charakterisieren:

Erstens: Gott hat ein bestimmtes Ziel mit der Menschheit in den Lauf der Geschichte eingeschrieben. Der göttliche Plan wird mit heiligen Zahlen wie 4, 7, 12, 40, 70 oder 72 dargelegt. Auf diese Weise gleicht sich der geordnete Lauf der Geschichte der Regelmäßigkeit der Natur an: vier Jahreszeiten, sieben Wochentage, zwölf Tierkreiszeichen und siebzig oder zweiundsiebzig Fünf-Tage-Wochen im alten Kalender.

Zweitens: Die Geschichte wird in einem völlig neuen Reich des Friedens, der Harmonie und der Gemeinschaft mit Gott gipfeln. Das kommende Reich wird wie eine Rückkehr zum Garten Eden oder der Advent eines himmlischen Reiches auf Erden sein.

Drittens: Unsere menschliche Geschichte ist mehr als eine einfache Abfolge von politischen, ökonomischen und sozialen Änderungen. Wir sind Teilnehmer an einem kolossalen Kampf Gottes mit seinen Engelscharen gegen die dämonischen Heere, die von Satan angeführt werden. Apokalyptische Theologie hat eine gut entwickelte Angelologie und Dämonologie, denn die Geschichte wird als eine Interaktion zwischen unserer und der geistigen Welt gesehen. Gemäß dem apokalytischen Schema sind die Menschheit und die ganze Erde von Satan unterjocht worden und schreien zu Gott um Befreiung.

Viertens: Die Apokalyptik verkündet eine Botschaft der Hoffnung. Gott wird dramatisch in die Geschichte eingreifen, um den Menschen von Satan zu befreien und ein Zeitalter messianischer Herrlichkeit einzuleiten. Obwohl die Ansichten über die Natur des messianischen Befreiers auseinandergehen, besteht volle Übereinstimmung darüber, daß Gott schließlich über Seine satanischen Widersacher triumphieren wird. Gleich wie mächtig das Böse jetzt sein mag, die Zukunft wird den Anbruch der völligen Herrschaft Gottes erleben.

Fünftens: Im Gegensatz zu großen Teilen des Alten Testamentes ist die Apokalyptik in ihrer Ausrichtung eher universal als nationalistisch. Der apokalyptische Seher sieht Gott Seine Herrschaft über den ganzen Globus hin offenbaren. Die letzte Bestimmung unterscheidet nicht den Juden vom Heiden, sondern den Guten vom Gottlosen. Das Letzte Gericht wird von den Normen der individuellen Rechtschaffenheit, nicht der Nationalität oder Rasse geleitet sein.

Außer diesen Grundzügen gibt es vier vernachlässigte Aspekte der apokalyptischen Bewegung:

Zum ersten ist sie in ihrer Einschätzung des Menschen und der Geschichte nicht pessimistisch, sondern sehr realistisch. Weil sie die Welt im Licht der Heiligkeit Gottes sahen, erkannten Apokalyptiker die gefallene Natur des Menschen, den Fluch der ursprünglichen Sünde und die Macht Satans. Doch sie glaubten, das tiefsitzende Böse könne ausgemerzt werden und waren zuversichtlich, daß das Beste noch komme. Gott würde des Böse hinwegwischen und jede Empfänglichkeit für Gott zum Erblühen bringen.

Zum zweiten war die apokalyptische Theologie stark von zoroastrischen Begriffen und Bildern beeinflußt. Der Judaismus erfreute sich eines kreativen Dialogs mit dem Glauben der persischen Prophetie. Der Neutestamentier W. Schmithals führt aus, daß es eine unverkennbare Nähe des alten Parsismus zur jüdischen Apokalyptik gibt: Dualismus, Universalismus, Individualismus, Auferstehung der Toten, ein letztes Feuergericht und Gottes endzeitlichen, letzten Sieg über die übernatürlichen Mächte des Bösen.

Zum dritten zeigt die apokalyptische Literatur klar, daß Offenbarung niemals auf einen heiligen Kanon beschränkt werden kann, weil Gott fortfährt, Seine geheimnisvollen Wege dem Propheten und Seher zu enthüllen. Gottes Offenbarungen an Daniel, Henoch, Esra, Baruch und an die anderen apokalyptischen Seher stellen neue göttliche Wahrheiten dar, die in der Thora des Moses nicht zu finden sind. Ähnlich beanspruchen die christlichen Propheten und Prophetinnen göttliche Offenbarung anzubieten, die vorher unbekannt war und jetzt enthüllt wurde. In der Tat. Apokalyptik stellt einen starken Protest gegen den Gedanken eines geschlossenen Kanons dar.

Zum vierten ist es wichtig zu erkennen, daß die apokalyptische Frömmigkeit die notwendige Brücke zwischen Altem und Neuem Testament bietet. Die apokalyptische Hoffnung bildet die religiöse und vorstellungsmäßige Grundlage für die Predigt Johannes des Täufers, Jesu und seiner ersten Jünger sowie für die ältesten Paulusbriefe.3

In neuerer Zeit werden fünf gegensätzliche Positionen über Jesus als Apokalyptiker vertreten:

1. Einige meinen, daß die apokalyptische Botschaft Jesu kein wesentlicher Teil seiner Lehre sei, und selbst wenn sie sich als Täuschung herausstellen sollte, so würde dies den Kern des christlichen Glaubens nicht berühren.4

2. Fundamentalisten haben in der Kirchengeschichte immer wieder das Datum der Wiederkunft Christi revidiert: 1000, 1600, 1844, 1914.5 So akzeptieren Neuevangelikale die Prophezeiungen der Letzten Tage, indem sie die Zeittafel ändern.

3. Karl Barth definierte die Eschatologie zur absoluten Transzendenz Gottes um, der der ganz Andere sei. Es gebe einen Abgrund zwischen Mensch und Gott, den nur Offenbarung überbrücken könne. So ist für Barth die Eschatologie eine Erinnerung an den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Zeitlichem und Ewigem.6

4. Bultmann entmythologisierte Jesu Apokalyptik zur Sprache des Existentialismus. Für ihn zielt Eschatologie auf das „Selbstverständnis“ eines jeden. Jedes „Jetzt“ ist ein Augenblick der Entscheidung, weil in jedem „Jetzt“ Gottes Reich für uns da ist.7

5. J.B. Metz lehrt, das Apokalyptik eine politische Theologie sei und die Verwirklichung von Gottes Plan große historische Umwälzungen zur Folge haben werde. Als befreiende und prophetische Kraft in der Gesellschaft sollten die Christen in Form diesseitiger Anstrengungen in Richtung universaler Gerechtigkeit und internationalen Friedens kreativ und militant wirken.8

WIEDERHERSTELLUNG DURCH WIEDERGUTMACHUNG

Das Problem des schlechten Handelns, das zum Unrecht gegenüber Gott und anderen führt, ist umfassend und alt. Es ist nichts anderes als das Problem der Sünde. Es hat in der Religionsgeschichte viele Antworten auf dieses Problem gegeben. Über die Folgen der Sünde und des Menschen Bedürfnis nach Sühne sind verschiedene Lehren entstanden. Opfergaben, Fasten, Selbstbestrafung durch freiwillige Schmerzen, sogar Märtyrertum sind Züge vieler Religionen in Vergangenheit und Gegenwart. Im Alten Testament finden wir die Idee der lex talionis (Auge um Auge, Zahn um Zahn), wodurch Vergeltungsstrafen für an anderen begangene Sünden gerechtfertigt werden. Das hinduistisch-buddhistische Konzept des Karma lehrt, daß böse Handlungen unausweichliche Folgen haben, die selbst schon die Sündenstrafe darstellen. Katholiken praktizieren die Buße, die das Sündenbekenntnis und den Vollzug eines Reueaktes einschließt. Dies ist Teil der weitergefaßten katholischen Vorstellung von Wiedergutmachung, die besagt, daß der Mensch sowohl für die Handlungen, die direktes Unrecht gegenüber anderen darstellen, wie für solche, die Gott entehren, eine Entschädigung leisten muß.

Um den Prozeß der Sühne und Vergeltung für Sünden zu beschreiben, benutzt die Vereinigungskirche den englischen Begriff „indemnity". Dieser bedeutet wörtlich, nach dem Lexikon, Befreiung von zugefügter Verletzung, Verlust oder Schaden, und das Verb „indemnify“ meint eine Kompensationsleistung für zugefügte Verletzung, Verlust oder Schaden. Die Vereinigungslehre gebraucht diese Worte, um zu sagen: Für alles, was wir falschmachen, müssen wir den Preis zahlen. Wenn wir nicht selbst zahlen, werden unsere Kinder oder Enkel zahlen müssen. (Obwohl wir das Wort „indemnity“, Entschädigung, Wiedergutmachung, verwenden, ist es in Wirklichkeit unzureichend, um gültig zu beschreiben, wie Gott mit dem Menschen und der menschlichen Sünde in der Geschichte umgeht. Doch für diese einer Offenbarung gleichen Idee des Reverend Moon, für die sogar die koreanische Sprache keinen vollkommenen Ausdruck anbietet, ist es dasjenige englische Wort, das der Sache am nächsten kommt.)

Im Lichte der „Göttlichen Prinzipien" können wir erkennen, daß die Bibel lehrt: Durch Gottes und Christi Gnade können wir auf mehrfache Weise bereuen, Entschädigung leisten und von Sünde befreit werden. Zunächst muß der einzelne vor Gott für die persönlichen Fehler, Versäumnisse und Sünden bereuen und von Ihm gerichtet werden. Fortan muß diese Person in konstruktiver Weise handeln, indem sie ihre bisherige Lebensweise ändert. Wenn ein Mitmensch durch seine Sünde verletzt wurde, muß der Sünder den Schaden reparieren. Nur wenn volle Wiedergutmachung geleistet wird, kann einer sich frei von Schuld fühlen und als Zeichen von Gottes Vergebung den Frieden seiner Seele erfahren. Nur dann wird die Gnade Gottes und die geistige Kraft erneut über ihn ausgegossen werden.

Manchmal erfordert die Wiedergutmachung die Rückzahlung eines geringeren Betrages als die ursprüngliche Schuld ausmacht. (Viele Christen glauben zum Beispiel, daß die ursprüngliche Sünde durch die Taufe und das sühnende Werk Christi beseitigt wird.) Manchmal kann der Preis viel größer sein. (Als zum Beispiel Moses Spione nach Kanaan sandte, waren ihre Berichte so erschreckend, daß keiner weiterzugehen wagte. Ihr Mangel an Glauben verzögerte ihren Einzug nach Kanaan um vierzig Jahre: Num 13-14. Auf diese Weise zahlten sie. was das Maß an Zeit betrifft, eitle viel größere Entschädigung für ihre Feigheit und Ungläubigkeit als ihre ursprüngliche Verzögerung ausgemacht hat.) Die Höhe der erforderlichen Entschädigung hängt davon ab, welcher Art die Sünde, wer von ihr geschädigt wurde und wie groß der Schaden ist, Gott zu leugnen und Seiner Sache zu schaden, schädigt viele Menschen und vereitelt den göttlichen Plan: es macht daher die Strafe ganz besonders peinvoll.

Durch die ganze Geschichte Seiner Vorsehung hindurch hat Gott bestimmte Personen für die zentralen Positionen, die große historische Verantwortung erfordern, auserwählt. Der Erfolg oder Mißerfolg eines solchen Menschen bringt Gottes höchsten Segen oder aber Gericht über seine Nation oder das Universum. Falls diese Person versagt, muß nicht allein das gesalbte Individuum, sondern auch seine Nation und im Grunde die ganze Welt unermeßliche Entschädigung leisten und viel leiden.

Während die Gedanken der Wiedergutmachung für Unrecht gewöhnlich nur auf der individuellen Ebene angewandt werden - auf sittliches Verhalten und Schicksal von Personen -, geht das Vereinigungsdenken darüber hinaus. Zwar schließt es auch das individuelle moralische Verhalten und das religiöse Leben des Einzelnen ein, doch erstreckt es sich über das Individuum hinaus auf einen viel größeren Umkreis. Die Mitglieder der Vereinigungskirche glauben, daß das Gesetz der Wiedergutmachung auf das Werk der Vorsehung und der Wiederherstellung auf jeder Ebene, individuell wie global, strenge Anwendung findet. Ohne Entschädigungsleistung werden wir keine Wiederherstellung erlangen.

Die Vereinigungsbewegung sieht die ganze Menschheit seit Adams und Evas Fall als Schlachtfeld zwischen Gott und Satan. Wegen der fortgesetzten Kooperation des Menschen mit Satan sind Gottes Hände in gewissem Sinne gebunden. Er ist nicht völlig frei, der Menschheit zu vergeben und sie durch seine Segnungen wiederherzustellen. Daher braucht Gott einen Menschen, um all die schweren Fehler zu heilen, die von den erwählten zentralen Personen in der Heilsgeschichte begangen wurden. Für diese oberste, entscheidende Aufgabe sandte Gott Jesus, einen Menschen, als Messias. Gottes Reich sollte auf der Grundlage der Erfüllung von Wiederherstellung durch Wiedergutmachung errichtet werden. Da Jesu Sendung scheiterte und das Reich Gottes noch zu verwirklichen ist, muß ein anderer göttlich berufener Messias als Befreier kommen, um die historische Entschädigung zu leisten. Diese wird durch den rückhaltslosen Dienst an anderen geleistet, wodurch die Fehler der früheren zentralen Personen der göttlichen Vorsehung wiedergutgemacht werden. Dieser wird als Diener eines Dieners beginnen und wird dann schrittweise Diener eines adoptierten Kindes Gottes. Diener des illegitimen Kindes Gottes, schließlich Diener Seines natürlichen, legitimen Sohnes. Er wird in der Ehe gesegnet werden und seinem Partner dienen. Als ein Paar werden sie dem Ideal wahrer Elternschaft dienen, um schließlich als Wahre Eltern dem allmächtigen Gott zu dienen, mit Ihm eins zu werden, als wahre Inkarnation Gottes. Indem er auf all diesen Ebenen aus ganzem Herzen dient, gewinnt er auf jeder Stufe Anerkennung und Wertschätzung, und schließlich volle Hingabe. Auf diese Weise trifft der Messias, als historischer Abel, auf jeder Ebene den Satan und unterwirft ihn, um das verlorene Geburtsrecht des historischen und universalen Kain wiederherzustellen. Er erfüllt auf diese Weise jede Bedingung der Entschädigung für die universale Wiederherstellung.

BIBLISCHE ANHALTSPUNKTE ZUR GESCHICHTE DER WIEDERHERSTELLUNG

Wenn die Geschichte ein zielgerichtetes Geschehen ist und Gottes mächtiges Handeln bezeugt, gibt es dann eine Möglichkeit zu verstehen, wie Gott Seine rechtmäßige Souveränität ausüben wird? Kann man den Plan Gottes für die Zukunft entdecken?

Viele Menschen unserer Zeit würden sagen, es gibt keine Möglichkeit, vorauszusagen, was morgen geschehen wird. Alles ist in Fluß. Wir verwirklichen oder zerstören unsere Zukunft, weil wir mit freiem Willen begabt sind. Es gibt keinen Fahrplan, keine sichere Richtung für den Lauf der menschlichen Ereignisse.

Christen haben noch zwei andere Behauptungen aufgestellt. Einmal versichert die jüdisch-christliche Tradition, daß Gott Seinen Willen in der Geschichte bekannt gibt, und daß die Geschichte auf ein endgültiges Ziel ausgerichtet ist, das Gott ihr von Anfang an gesetzt hat. Zweitens behaupten Juden wie Christen, daß die Heiligen Schriften göttliche Offenbarung enthalten: eine buchstäbliche Enthüllung von Gottes Ziel für den Menschen und die Schöpfung im ganzen. Wenn das zutrifft, sollten sich in der Bibel wichtige Schlüssel über das Ziel der Geschichte finden, wie auch über Gottes Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen. Da Gott in der Geschichte handelt und die Schriften Seine langfristigen Pläne enthüllen sollen, können Christen nicht logisch die totale Unbegreiflichkeit Gottes oder die vollständige Verborgenheit Seines letzten Zieles vertreten. Aus diesem Grund lehrt die Vereinigungstheologie, daß das grundlegende Muster der Heilsgeschichte durch eine inspirierte Interpretation der Bibel verstanden werden kann.

Was sind dann die Regeln für ein korrekte biblische Hermeneutik? Um neoorthodoxe Terminologie zu benutzen: Wie entdecken wir das Wort Gottes in den Worten der Bibel?
Für die Vereinigungstheologie ist die Erzählung von Adam und Eva für das Verständnis um Natur und Bestimmung des Menschen besonders wichtig. Wenn einmal die Anfangskapitel der Genesis richtig interpretiert sind, kann man die Quelle des gegenwärtigen menschlichen Elends und seine künftige Herrlichkeit verstehen.

Wie sollte Adam nach Gottes Erwartung seine Rolle In der Schöpfung wahrnehmen? Nach der Bibel beabsichtigte Jahwe, das erste Paar solle für immer die Seligkeit in Eden genießen, indem es ein Glaubensfundament und ein substantielles Fundament errichtete. Durch inneren Glauben an Gott und äußeren, konkreten Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen hätten Adam und Eva an Weisheit und Gestalt, in der Gunst Gottes und in gegenseitiger Gunst wachsen können. Auf dieser inneren und äußeren Grundlage hätte das erste Menschenpaar ein Vier-Positionen-Fundament schaffen und eine auf Gott ausgerichtete Familie in einer auf Gott ausgerichteten Welt ermöglichen können. Durch die Verwirklichung des ursprünglichen Schöpfungszieles wäre Gottes Wille auf Erden wie im Himmel geschehen. Im Zentrum der messianischen Theologie des Alten wie des Neuen Testamentes steht die Überzeugung, daß der ursprüngliche Schöpfungszweck durch eine erneuerte Partnerschaft zwischen Gott und Mensch erreicht werden kann und muß. Gott wird in der Lage sein, ein Neues Zeitalter einzuleiten, wenn einmal der Mensch Glaubensfundament und substantielles Fundament errichtet hat. Diese stellen die fundamentale Voraussetzung für die Ankunft des messianischen Zeitalters in seinem vollen Glanz dar. Daher hat Gott vom Augenblick des Sündenfalles an in der Geschichte gehandelt und einen Weg gesucht, um dem Menschen die drei Segnungen zu gewähren, die ursprünglich dem Adam versprochen waren. Die Bibel sollte aus dieser Perspektive gelesen werden. Ihre Hauptbotschaft betrifft die Mittel, durch die der gefallene Mensch wiederhergestellt werden kann, damit sich Gottes Freude erfülle.

Nach der Erzählung von Adam und Eva berichtet die Genesis von dem furchtbaren Konflikt zwischen ihren beiden Söhnen. Auch hierin erblicken die „Göttlichen Prinzipien“ eine wichtige historische Lektion. Auch wenn der tödliche Streit zwischen Kain, Adams Erstgeborenem, und Abel, seinem zweiten Sohn, mehrere Bedeutungsebenen haben mag - zum Beispiel die natürliche Animosität zwischen dem nomadischen Viehzüchter und dem niedergelassenen Bauern -, liegt die Hauptaussage darin, zu zeigen, wie die Feindschaft zwischen Brüdern den göttlichen Schöpfungsplan vereiteln kann. In der jüdisch-christlichen Tradition hat Kain lange die Feindschaft des gefallenen Menschen gegen Gott und seinen destruktiven Haß gegen andere symbolisiert. Im Gegensatz dazu wird Abel oft als der leidende Diener Gottes und als Märtyrer für die gerechte Sache verstanden.

Die Vereinigungstheologie geht mit dieser gewohnten Sicht konform, deckt jedoch weit tiefere Implikationen der Erzählung auf. Wenn Abel zu Gott hält und Kain das willige Werkzeug Satans wird, wie soll es dann jemals einer gespaltenen Menschheit möglich sein, Gottes Reich zu errichten? Wie kann Abel den Haß seines Bruders überwinden und ein wirksamer Diener Gottes werden? Kain wandte Gewalt an, um zu erlangen, was er wollte - und um dadurch zu erfahren, daß sein Haß ihn von Gott und allen Menschen entfremdet hatte. Abels Aufgabe bestand darin, seinen Bruder durch Liebe zu gewinnen. Was Kain angeht, so fühlte er sich zurückgestoßen, von Gott entfremdet und auf seinen jüngeren Bruder neidisch. Aus verletztem Stolz und aus Eifersucht explodierte er vor Arger und tötete Abel. Was hätte Kain tun sollen? Trotz seines verletzten Stolzes, seines Neides und seiner Bitterkeit hätte Kain diese Gefühle in hingebungsvollem Dienst an seinem Bruder und an Gott überwinden sollen. Indem sie ihre spezifischen Anteile an Verantwortung auf sich genommen hätten, hätten Kain und Abel den Schaden wieder beheben können, der durch den Fall ihrer Eltern entstanden war: so hätten sie sich mit ihrem Schöpfer versöhnt und Gott eine Möglichkeit geboten. Sein Schöpfungsideal zu erfüllen.

Im gesamten Geschichtsablauf wiederholt sich der Streit zwischen Kain und Abel, Diese destruktive Rivalität findet auf jeder Ebene - der individuellen, familiären, nationalen und globalen - als Manifestation des kosmischen Streites zwischen Gott und Satan statt. Doch die einzige Möglichkeit für Gott, über Seine Widersacher zu triumphieren, besteht darin, jemanden zu finden, der tatsächlich die Mächte des Bösen durch Dienen, Demut und Liebe unterwerfen kann. Abels Tragödie spiegelt die gesamte menschliche Misere, weil er nicht vermochte, die triumphierende Kraft selbstloser Liebe zu zeigen.

Wie kann Gottes Wille geschehen, bis jemand uns den Weg zeigen kann, die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen zu überwinden Wie, erklärt die Heilige Schrift Gottes Methode, die Menschheit wiederherzustellen? Worin besteht der biblische Erlösungsplan? Gottes erster Schritt ist, eine zentrale Person zu finden, durch die Er Seinen Willen manifestieren und Seine Souveränität ausüben kann. Nach Adams Fall suchte Gott diese Person in der Familie Adams. Doch selbst Abels Tod entmutigte Ihn nicht. Wie das Alte Testament zeigt, berief Gott Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Moses - und schließlich Jesus -, um an Seinem Heilswillen mitzuwirken.

So sehen wir, daß Gott durch zentrale Personen wirkt, um Seinen Willen auszuführen. Dies ist eine der wichtigsten Lehren der Heiligen Schrift. Die Bibel bezeugt, wie energisch und ausdauernd Gott in der Geschichte handelt, um seinen Willen auf den Ebenen von Individuum, Familie, Stamm, Nation und Menschheit zu konkretisieren. Von Adams Zeit bis zu unserer eigenen hat Gott daran gearbeitet, Erde und Himmel miteinander in Harmonie zu bringen. Daher interpretieren die „Göttlichen Prinzipien“ das Programm der Wiederherstellung als eine Rückkehr zu Gottes Schöpfungsprinzip.

Eine zweite Regel, die Gottes Heilswege bestimmt, wird in unseren Tagen oft übersehen, obwohl sie von einigen Kirchenvätern und vielen rabbinischen Kommentatoren klar erkannt wurde. Wenn man die Bibel sorgfältig liest, wird man bemerken, wie manche Zahlen in der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte immer und immer wiederholt werden. Einige dieser mystischen Zahlen sind 3. 4, 7,10,12,40,70, 120 und 400.

Einige Beispiele: Adam hat 3 Söhne (Kain, Abel und Seth), Noah hat 3 Söhne (Sem, Ham und Japhet). und Jesus hat drei Hauptjünger (Petrus, Jakobus und Johannes). Jakob hat 12 Söhne, Moses vereint die 12 Stämme, und Jesus erwählt die 12 Apostel. Die Flut zu Noahs Zeiten dauert 40 Tage, die Hebräer verbringen 40 Jahre in der Wildnis, und Jesus fastet 40 Tage. Es gibt 70 Mitglieder der Familie Jakobs, Moses beruft 70 Älteste, und Jesus sendet 70 Jünger aus, das kommende Reich Gottes zu verkünden. Können diese Zahlen bloß zufällig sein? Oder bieten sie Schlüssel, wie Gott bei der Erneuerung der Menschheit wirkt? Die „Göttlichen Prinzipien“ folgern, eine sorgfältige Studie der oft wiederholten Zahlen in der 0ibel die notwendigen Bedingungen freilegt, die erfüllt sein müssen, damit Gott den Menschen aus den Banden Satans befreien kann.

Wenn bestimmte mystische Zahlen für die Entdeckung des Heilsplans der Heiligen Schrift wichtig sind, so legen sie auch nahe, daß Gott in Zeitperioden arbeitet, um sein Reich zu verwirklichen. Wie es die drei Stufen den Gestaltung, des Wachstums und der Vollendung in der Welt der Natur gibt, so kann auch die Geschichte in ein alttestamentliches, ein neutestamentliches und ein kommendes messianisches Zeitalter (das Erfüllte-Testament-Zeitalter) eingeteilt werden. Das heißt, die Geschichte folgt einem mehr oder weniger bestimmten Muster. Dies ist die dritte wichtige Lektion, die die Bibel lehrt.

Für jüdische Gläubige stellt die Thora das Herz der Schriften dar: Das von Gott geoffenbarte Gesetz, durch das die Menschen ein gerechtes Leben im Gehorsam den göttlichen Geboten gegenüber führen sollten. Christen betrachten das Alte Testament gewöhnlich ganz anders. Für sie ist die jüdische Heilsgeschichte vor allem deshalb von bleibender Bedeutung, well sie zeigt, wie Gott Israel auf die Ankunft des Messias vorbereitet hat. Die Christen legten daher traditionell den größten Wert auf eine messianische Interpretation der alten hebräischen Schriften. Dieser Methode folgen auch die „Göttlichen Prinzipien".

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat eine dritte Art der Exegese diese beiden älteren Methoden abgelöst. Statt die Schriften theologisch zu betrachten, versuchten die meisten Forscher sie historisch zu verstehen. So nützlich die historisch-kritische Methode sein mag, um die verschiedenen Teile der Bibel in ihrem sozialen, politischen und intellektuellen Hintergrund und Zusammenhang zu sehen, so tendiert sie doch dazu, den fundamentalen religiösen Wert der heiligen Texte zu übersehen. Selbst wenn man eine biblische Passage im Licht ihrer kulturellen Umwelt zu lesen gelernt hat, muß noch die Frage gestellt werden: Was ist Gottes Wort für unsere Zeit?

Vom Standpunkt der Vereinigungstheologie besteht das Hauptziel des Alten Testamentes darin, zu zeigen, wie Gott und Mensch zusammenwirken, um eine gefallene Welt durch die Erfüllung der Wiedergutmachungs-Bedingungen wiederherzustellen. Nach Adam und Abel dienten fünf alttestamentliche Hauptgestalten als zentrale Personen auf dem Weg der Vorsehung der Wiederherstellung: Noah, Abraham, Isaak, Jakob und Mose. Aufgrund des starken Glaubens und der Entschlossenheit dieser Männer konnte Gott beginnen, den durch den Sündenfall verursachten Schaden zu beheben.

Was war der spezifische Beitrag, den jede dieser Gestalten zur Wiederherstellung leistete? Die „Göttlichen Prinzipien" beleuchten sehr ausführlich die Art, wie sie als Gottes Instrumente dienten9  Für unseren Zweck genügt es, ihre Leistungen zusammenzufassen. Wegen seines Glaubens und seiner Entschlossenheit, entsprechend dem Gebot Gottes trotz der riesigen Schwierigkeiten die Arche zu bauen, war Noah fähig, eine Glaubensgrundlage auf individueller Ebene zu legen. Abraham, Isaak und Jakob folgten demselben Weg der Wiedergutmachung und erfüllten die Grundlagen der Wiederherstellung auf der Familienebene. Schließlich mühte sich Moses mit nämlichem Eifer, die hebräischen Stämme aus der satanischen Sklaverei herauszureißen; mit Josua und Kaleb konnte er die Basis der Wiederherstellung auf die nationale Ebene ausdehnen. Nach der Vereinigungslehre sind diese Leistungen die wichtigsten Züge des alttestamentlichen religiösen Lebens und Denkens. Denn diese zentralen Gestalten leiteten ihr Volk an, den Weg für die Ankunft Jesu vorzubereiten.

In der Geschichte der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung kann man mehrere Lektionen lernen.

1. Gott ist entschlossen, seine Herrschaft über die Schöpfung zu erneuern und Sein ursprüngliches Ziel zu erfüllen.

2. Die Geschichte ist das Schlachtfeld zwischen Gott und Satan, wobei jeder versucht, Menschen auf seine Seite zu ziehen.

3. Die Menschen haben ein bestimmtes Maß von Verantwortung, das sie erfüllen müssen. Zentrale Personen sehen sich wegen ihrer größeren Sendung größten Prüfungen und Hindernissen ausgesetzt.

4. Wenn eine zentrale Person darin versagt, ihre Sendung auszuführen, wird Gottes Vorsehung verzögert, die Menschen leiden mehr, und der Nachfolger muß den ganzen vorher eingeschlagenen Weg wiedergutmachen, bevor er den Prozeß der weiteren Wiederherstellung in Angriff nehmen kann. Wenn auf der anderen Seite eine zentrale Person ihre persönliche Sendung erfüllt, sichert sie der ganzen Menschheit Gottes Segen.

Wie viele Bibelwissenschaftler ausgeführt haben, setzt dieses jüdische Verständnis der Geschichte voraus, daß der Lauf der menschlichen Ereignisse einem bestimmten Muster unterliegt. Indem wir aus den Ereignissen der Vergangenheit lernen, gewinnen wir eine Idee von dem, was in der Zukunft geschehen mag. Gottes Handlungen sind weder irrational noch willkürlich, sondern folgen einem Plan, der sich in der Heiligen Schrift widerspiegelt. So erklären es die „Göttlichen Prinzipien“.

Das allgemeine Muster der Wiederherstellung im Alten Testament wird in einem bemerkenswerten Maß im Zeitalter des Neuen Testaments wiederholt. Die Weise, wie Gott und Mensch zusammenarbeiteten, um die Welt für die Ankunft Jesu bereit zu machen, zeigt, wie Gott fortfuhr, das messianische Zeitalter vorzubereiten, und dies bis auf den heutigen Tag.

Worin besteht das besondere Verdienst dieser Sichtweise der „Göttlichen Prinzipien"? Zunächst einmal bekräftigen sie in verblüffender Weise den Wert und die Autorität der biblischen Offenbarung. Sodann stützt sich die Vereinigungstheologie auf den biblischen Glauben, daß Gott in der Geschichte handelt, und betrachtet dies als den Schlüssel zum erlösenden Charakter aller Geschichte. Drittens korrigieren sie dadurch die Unangemessenheiten der allgemeinen protestantischen Vorstellung, Gott habe zu sprechen und zu handeln aufgehört, sobald die Schriften geschrieben waren. Indem sie die Offenbarungsautorität der Bibel anerkennt, wendet die Vereinigungstheologie die biblische Botschaft an, um die fortgesetzte Erlösertätigkeit Gottes in der Welt von heute zu erklären.

Wie verlief die Wiederherstellung durch Wiedergutmachung, die die notwendige Grundlage für das Kommen Jesu bildete?

1. Vier Jahrhunderte ägyptischer Sklaverei

2. Das Zeitalter der hebräischen Richter

3. Die vereinigte hebräische Monarchie

4. Das geteilte Königtum von Israel und Juda

5. Die babylonische Gefangenschaft und die Rückkehr aus dem Exil

6. Vier Jahrhunderte der Vorbereitung auf das Erscheinen des Messias

Nach den „Göttlichen Prinzipien" weist die Erlösungstätigkeit Gottes unter Mitwirkung des Menschen seit dem Tode Jesu am Kreuz eine parallele Entwicklung der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung auf. Wenn dies wahr ist, dann ist unsere eigene Gegenwart eine Zeit unerhörter Verheißung.

EINE BIBLISCHE SICHT DER GESCHICHTE

Nach der alttestamentlichen prophetischen Weltsicht gestaltet Gott historische Ereignisse in Übereinstimmung mit Seinem vorherbestimmten Plan. Weil das auserwählte Volk Israel glaubte, daß Jahwe seine Herrschaft in der Geschichte erweist, wurden sie von einem Gefühl der Bestimmung vorangetrieben. Die Hebräer sahen ihre Handlungen als Antworten auf den Bund mit Gott; also waren sie zuversichtlich, daß eines Tages das Reich Gottes eine lebendige Realität werden würde.11

Die Vereinigungstheologie benutzt diesen biblischen Rahmen der Heilsgeschichte, um das Entwicklungsmuster der Christenheit zu erklären. Obwohl eine solche Methode im Lichte des biblischen Glaubens völlig natürlich erscheint, bieten die „Göttlichen Prinzipien“ einen durchaus neuartigen Zugang. Dort wurde ein in sich stimmiger Versuch gemacht, das alttestamentliche Muster von Heilsgeschichte mit den Ereignissen der späteren christlichen Ära zu vergleichen.

Befreiungstheologen betonten die Wichtigkeit der Tatsache, daß Mose die hebräischen Stämme aus der ägyptischen Sklaverei befreite. Der alttestamentliche Glaube wurzelt in zwei Erfahrungen: Sklaverei und Freiheit. In neustestamentlichen Zeiten vergleicht das Matthäusevangelium Jesus mit Moses: Jesu Sendung war die Befreiung des Menschen aus der Gefangenschaft Satans, und seine Lehre lieferte eine neue Thora für das zweite Israel. Wir sollten daher nach möglichen Parallelen zwischen Israels Erfahrung in Ägypten und der ersten Periode der christlichen Geschichte Ausschau halten.

In beiden Fällen erfuhr der Glaubende die Opposition von der herrschenden weltlichen Macht. Wie die Hebräer von einem grausamen Pharao unterdrückt wurden, wurden die Christen von römischen Kaiser brutal verfolgt. Erst im vierten Jahrhundert, unter Kaiser Konstantin, wurde der Glaube an Jesus Christus als eine der legitimen Religionen der römischen Welt toleriert. So illustrieren die zwei Perioden das biblische Gesetz der Wiederherstellung durch Wiedergutmachung.

Die ersten vier Jahrhunderte der Christenheit prägten seine Zukunft nachhaltig. Innerhalb dieser Periode nahm die ziemlich offene christliche Bewegung eine feste strukturelle Gestalt an. Die Kirche triumphierte über ihre Widersacher, indem sie die Wichtigkeit der Einheit betonte. Nur eine geeinte Christenheit konnte in einer feindlichen Welt überleben. Die Kirche schuf allmählich einen neutestamentlichen Kanon, ein Glaubensbekenntnis und einen Klerus mit Autorität.

Vielleicht ähnlich wichtig wurde auf Dauer die erste christliche Geschichtsphilosopie, die der nordafrikanische Bischof Augustinus ausarbeitete. Sein „Gottesstaat“ war höchst einflußreich, denn l. gründete das Buch auf der gefallenen Situation des Menschen und auf Gottes Entschlossenheit. Seine Schöpfung wiederherzustellen, und 2. sah es die Geschichte als einen Kampf zwischen der vom Bösen beherrschten Stadt dieser Welt und dem Ideal einer Stadt Gottes, 3. belebte Augustinus in einer Zeit der politischen Katastrophe und der geistigen Verzweiflung, verursacht durch die barbarische Eroberung der Stadt Rom, die Hoffnung der Menschen neu, 4. Der Gottesstaat erinnerte die Christen an ihre praktische Verantwortung für die Verwirklichung des ursprünglichen Schöpfungsplans.

Als die hebräischen Stämme einst das Gelobte Land betraten, begann die lange Zeit der Richter, die mit Samuel endete. Das Alte Testament beschreibt diese zweite Periode als eine Zeit der Wirren. Eine ähnliche Periode der Wirren überkam die Christen von ungefähr 400 bis 800 n. Chr.

Das neue christliche Rom zu Konstantinopel war von zahlreichen Feinden bedrängt. Äußerlich wurde es von aufeinanderfolgenden Wogen barbarischer Eindringlinge geschwächt. Schlimmer noch, die Muslime überschwemmten den Nahen Osten und Nordafrika, besetzten Spanien und drangen nach Frankreich vor. Eine Zeitlang muß ein Überleben des Christentums unwahrscheinlich geschienen haben.12 Wie das Volk Israel zur Zeit der Pächter von den Philistern hart bedrängt wurde, so litt das neue Israel ungemein unter dem Zerfall des römischen Reiches.

Innerlich wie äußerlich sah sich die Kirche ernsten Problemen gegenüber. Bald nachdem Konstantin das Christentum angenommen hatte, wurden einige einflußreiche kaiserliche Städte wie selbstverständlich zu Hauptzentren der kirchlichen Macht. Die Bischöfe von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Rom, Patriarchen genannt, wurden aufeinander eifersüchtig und ließen sich oft auf zerstörerische Kämpfe um die Vorherrschaft ein. „Jedermann tat, was in seinen eigenen Augen recht war", um das Buch der Richter zu zitieren (21.25). Dieser tragische Mangel an Einheit nahm drei zerstörerische Formen an: Zank unter den fünf Patriarchen. Spannungen zwischen den christlichen Kaisern und den führenden Kirchenmännern sowie Spaltungen, hervorgerufen durch Versuche, theologische Uniformität zu erzwingen. Wiederholt wurde die christliche Gemeinschaft geteilt, da die Arianer mit den Verteidigern des Credos von Nizäa fochten, da die Semi-Nestorianer mit den Semi-Monophysiten kämpften, da die Bischöfe von Rom jede Gelegenheit ausnutzten, die rivalisierenden Patriarchen von Konstantinopel und Alexandrien zu schwächen.

Aus den chaotischen Zuständen in Israels Zeit der Richter wurde das geeinte hebräische Königtum geboren. Als ein Großteil der christlichen Welt von Muslimen oder Barbaren kontrolliert wurde, erschien in vergleichbarer Weise Karl der Große in Westeuropa als der Held der Rechtgläubigkeit und der politischen Einheit.

Die „Göttlichen Prinzipien“ vertreten die Ansicht, daß Karl der Große eine Schlüsselrolle in Gottes Werk der Wiederherstellung spielte. Sein Werk war so wichtig, weil sein Großvater,  Karl Martell, die muslimischen Eindringlinge in Frankreich gestoppt und zum Rückzug nach Spanien gezwungen hatte. Im Jahre 771 wurde Karl der Große der einzige Herrscher des Frankenreiches. Am Weihnachtstag 800 wurde er in Rom von Papst Leo III. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Während seiner langen Regierungszeit herrschte Karl der Große über ein riesiges Gebiet, das Frankreich, Belgien, die Niederlande, den größten Teil West-deutschlands, Österreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz, Nord- und Mittelitalien, sowie Teile Ungarns und Jugoslawiens einschloß. Karl der Große schuf daher das Ideal eines geeinten Europas.12

Sein Königtum markiert zugleich eine bedeutsame Wende in der christlichen Geschichte. Vor seiner Herrschaft lag das Zentrum des kirchlichen Lebens und Denkens im oströmischen Reich. Von den Tagen Karls bis 1914 fanden die meisten wichtigen Ereignisse der christlichen Geschichte in Westeuropa statt.

Karl der Große nahm die Verantwortungen eines christlichen Königs und Verteidiger des Glaubens recht gewissenhaft auf sich. Er betrachtete sich selbst als einen zweiten König David, und so wird er auch in den „Göttlichen Prinzipien“ gesehen. In diesem Sinne verteidigte er den Papst, interessierte sich aktiv an theologischen Dingen, unterstützte die besten Kirchenmänner seiner Zeit und regte eine kulturelle Wiederbelebung in Westeuropa an. Unglücklicherweise, ganz ähnlich wie die hebräische Monarchie nach dem Tode Davids auseinander zu brechen begann, wurden die Errungenschaften Karls des Großen von seinen Nachfolgern nicht erhalten. Trotz der tapferen Anstrengungen Karls des Großen konnte das Heilige Römische Reich keine sichere Grundlage für Augustins Ideal des Gottesstaates bieten.

Nach Salomons Herrschaft rebellierten die nördlichen Stämme gegen Jerusalem und errichteten ein rivalisierendes Königtum. Diese Teilung schwächte die Hebräer religiös wie politisch empfindlich. Den vierhundert Jahren des Konflikts zwischen den Königtümern von Israel und Juda vergleichbar, litt das christliche Europa ungefähr vier Jahrhunderte an politischen Unruhen und religiösem Zank.

Es gibt einige Hauptmerkmale der Periode von 1000 bis 1500: Erstens exkommunizierte im Jahre 1054 Papst Leo K. Michael, den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, womit er eine Trennung zwischen östlicher Orthodoxie und Katholizismus verursachte, die bis heute fortdauert. Zweitens gab es zwischen mächtigen Päpsten und ehrgeizigen europäischen Monarchen wiederholt Kämpfe. Drittens: Trotz der Mönche und Mystiker des Mittelalters, deren Frömmigkeit und Andacht beispielhaft sind, wurde die westliche Kirche von Habgier, Stolz und Weltlichkeit infiziert. Schließlich verbreitete sich ein nationalistischer Geist über Europa, der die Einheit zu zerstören drohte, welche das Christentum einst verwirklicht hatte.

Die alttestamentlichen Propheten warnten, wenn das Volk von Israel sich nicht erneuere, sei die Nation zum Untergang verurteilt. Ihre Prophezeiungen erfüllten sich, als das nördliche Königtum von den Assyrern zerstört wurde und die Menschen des Südteils später ins babylonische Exil verschleppt wurden. Vergleichbare Katastrophen kamen über die korrupte katholische Kirche und die Christen Europas.

Zum einen versagte das Papsttum kläglich in den großen Kreuzzügen, bei denen das Heilige Land wiedergewonnen werden sollte. Trotz einiger früher Niederlagen konnten die Muslime ihre Stellung im Nahen Osten festigen und nach Osteuropa vorrücken, bis sie Wien belagerten. Als Konstantinopel den Osmanischen Türken 1453 in die Hände fiel, wurden alle vier alten orthodoxen Patriarchate im Osten nicht-christlichen Regierungen unterworfen.

Zum anderen war der kirchliche Apparat der mittelalterlichen Kirche überholt. Das machtvolle Papsttum, das Gregor VII. (1073-1085) und Innozenz III. (1198-1216) ausgestaltet hatten, brauchte weittragende Erneuerungen. Da die Kirche sich oft auf närrische Weise in die Politik verstrickt hatte, wechselte der päpstliche Hof zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Rom nach Avignon, um Schutz durch den französischen König zu finden. Ein Jahrhundert später sahen sich die Katholiken drei Päpsten auf einmal gegenüber: einer in Rom, einer in Avignon und ein dritter in Pisa, gewählt auf einer Versammlung reformfreudiger Kardinale. Welch eine Komödie der Irrungen!

Noch gefährlicher als die heranrückenden islamischen Armeen und die skandalöse Uneinigkeit unter den Kirchenführern war die Durchdringung der neuen Zeit durch den Geist des Säkularismus. „Wir leben in dieser Welt, und unser Hauptziel ist, die Freuden dieser Welt zu genießen", sagten die Menschen. Auch wenn die Renaissance nicht offen anti-christlich war, so signalisierte sie doch das Ende des mittelalterlichen Ideals. Das Leben wurde nicht länger als eine Pilgerschaft zum Himmel verstanden. Die Menschen der Renaissance glaubten, daß ein guter Gott die Erde zur vollen Befriedigung des Menschen erschaffen habe. Vom Standpunkt der Kirche muß das Dahinschwinden des Mittelalters ähnlich traumatisch gewesen sein wie das babylonische Exil für die alten Hebräer.

DAS ZEITALTER DER IDEOLOGIEN

Da die christliche Ära das Grundmuster der alttestamentlichen Heilsgeschichte wiederholt, muß es eine besondere providentielle Bedeutung für die vergangenen vier Jahrhunderte des modernen Zeitalters gegeben haben. Bringt unsere Zeit lediglich die spirituelle Erschöpfung der westlichen Zivilisation, ihren moralischen Bankrott und die Verdunkelung ihres Gewissens zum Ausdruck, wie Rabbi Berkovits13 denkt? Oder ist es möglich, daß die ganze Welt einem neuen Zeitalter der Hoffnung entgegengeht, wie Moltmann es vertritt? Nach den „Göttlichen Prinzipien" sollten wir die messianischen Ansätze unserer Zeit ins Auge fassen. Wenn der zeitgenössische Mensch sich in der Wildnis aufhält, mag er unterwegs sein zum verheißenen Land, wie die Hebräer.
Wir haben bereits erwähnt, wie die Geschichte regelmäßig Zwillingsbewegungen hervorbringt, einigermaßen vergleichbar den Söhnen Adams, Kain und Abel. Das bedeutet, die Geschichte vollzieht sich nach dem Grundgesetz der Polarität. Die Neuzeit brachte daher eine Serie von gegensätzlichen, doch aufeinander bezogenen Entwicklungen hervor:

a) Rennaissance und Reformation

b) Aufklärung und Pietismus

c) die französische und die anglo-amerikanische Revolution

d) Industrialismus und sozialen Idealismus

e) Nationalismus und Imperialismus.

Wenn wir diese parallelen Bewegungen mit biblischen Charakteren vergleichen, sollten wir sehr vorsichtig sein, sie nicht zu scharf entgegenzusetzen. Da Gott die Absicht hatte, sich beider Söhne Adams zu bedienen und ihre Zusammenarbeit zum Vorteil der göttlichen Vorsehung wünschte, sollte man die Kain-Bewegungen und die Abel-Bewegungen niemals als unvermeidlicherweise antithetisch verstehen. Die Renaissance zum Beispiel war nicht schlechthin teuflisch und die Reformation nicht schlechthin gut. Die Tragödie besteht darin, daß sie so oft darin versagten; um eines höheren Gutes willen harmonisch zusammenzuwirken.

Es gab positive Aspekte der Renaissance. Die Renaissance versuchte, die Enge des Mittelalters aufzustoßen, indem sie die Weisheit der griechischen und römischen Antike neu entdeckte. Statt aus der Welt zu fliehen, zeigte sie auf, daß Gott die Welt als einen Ort der menschlichen Vervollkommnung geschaffen hat. Die Vertreter der Renaissance betonten daher die Würde des Menschen, die Kraft seiner Vernunft, die Liebe zur Natur und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung. Dadurch suchten sie die ursprüngliche Natur des Menschen neu zu bestätigen. So sehen es die „Göttlichen Prinzipien".

Die Reformation sollte nicht der Renaissance als solcher Widerstehen, sondern vielmehr deren Werte vertiefen und kräftigen, indem sie die Menschen an ihr biblisches Erbe erinnerte. Hätten Renaissance und Reformation zusammengewirkt statt gegeneinander zu rivalisieren, so hätten sie die Menschheit auf eine neue Ebene der providentiellen Wiederherstellung gehoben.

Nach Ansicht der protestantischen Reformatoren bestand der einzige Weg für die Menschen, ihre Situation zu verbessern, darin, eine theozentrische Lebensphilosophie zu akzeptieren und zu praktizieren. Während die Renaissance für eine Neubelebung des griechisch-römischen Geistes eintrat, drängten die Reformatoren die Menschen, zum ursprünglichen Christentum der Apostel zurückzukehren. Worin bestanden ihre Grundlehren? l. Erlösung hängt allein vom persönlichen Glauben ab. 2. Die Autorität der Bibel ist größer als die des Papstes, eines ökumenischen Konzils, eines Bischofs oder Ortspriesters. 3. Man muß nicht Nonne oder Mönch werden, um ein christliches Leben zu führen. 4. Gott spricht zu jedermanns Gewissen direkt, also darf das Recht des persönlichen Urteils in Religionsdingen nicht verneint werden.15

Der nächste Schritt im Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen kam mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Auch dieses Zeitalters der Vernunft hat seine Verdienste. Da die Überbetonung der rechten Lehre in der Reformation und der katholischen Gegenreformation zu fürchterlichen Religionskriegen geführt hatte,16 begannen viele Intellektuelle sich mehr auf die ethischen Lehren Jesu zu konzentrieren als auf die metaphysischen Subtilitäten kirchlicher Dogmen. Als Ergebnis zahlreicher wissenschaftlicher Erfindungen und Entdeckungen erkannten sie auch, wie Gott die Schöpfung durch die Naturgesetze leitet.17 Ferner wurden sich die Christen erstmals der Existenz der großen asiatischen Religionen bewußt. Jesuitenmissionare sandten Berichte über die chinesische Kultur, so daß die Lehren des Konfuzius unter gebildeten Europäern beliebt wurden. Schließlich bestanden westliche Schriftsteller, der theologischen Kontroversen müde, auf dem Wert der Toleranz. Auf diese Weise half die Aufklärung dem menschlichen Fortschritt.

Doch genügte es nicht, das Christentum auf eine Religion in den Grenzen der Vernunft“ zurückzuführen, um Kants Ausdruck zu benutzen. Wichtiger ist die Religion des Herzens.19 Infolgedessen entstand als Heilmittel gegen die Schwächen des aufklärerischen Rationalismus und Naturalismus der Pietismus. Dieser nahm drei Formen an: eine mitteleuropäische Erneuerungsbewegung des Christentums auf der Basis persönlicher religiöser Erfahrung, der Methodismus der Brüder Wesley und das „Great Awakening" in Amerika.20 Aufklärung und Pietismus (als Kain und Abel) hätten geholfen, das Bewußtsein des Menschen von Gottes Schöpfungsziel zu vertiefen, wenn sie zusammengewirkt hätten, statt sich einander in den Weg zu stellen.

Die Geburt der Demokratie kann bis zum antiken Athen zurückverfolgt werden. Doch die Wiege der heutigen Demokratie steht im England des 17. Jahrhunderts. Ihre Anfänge sind ein Ergebnis der erfolgreichen Auflehnung gegen die absolute Monarchie. Dieser Kampf um die Rechte des Parlaments in Opposition zu den Stuart-Königen wurde von der puritanischen Bewegung unterstützt, weil er mehr religiöse Freiheit versprach. Während die Briten sich im allgemeinen damit begnügten, die königliche Macht zu begrenzen, ebnete ihr Ideal einer repräsentativen Regierung anderswo den Weg für eher grundsätzliche soziale Änderungen.

Politisch gesehen brachte das Zeitalter der Vernunft die amerikanische und die französische Revolution hervor. Obwohl diese Umwälzungen viele gemeinsame Züge haben, führten sie zu sehr unterschiedlichen demokratischen Konzepten. In Amerika war der Kampf um Selbstregierung gewöhnlich mit der christlichen Lehre von der eingeborenen Würde eines jeden Menschen als eines Kindes Gottes verbunden. Weil Gott uns erschaffen hat, haben wir gewisse unveräußerliche Rechte und bestimmte Verantwortlichkeiten, betonten die Gründungsväter. Dieser biblische Glaube machte es den Vereinigten Staaten möglich, eine stabile repräsentative Regierung ins Leben zu rufen. Dagegen war die französische Revolution ursprünglich primär antichristlich; sie führte zu sozialen Wirren, Klassenhaß und schließlich zur Diktatur.21 Während die Amerikaner den Menschen in Begriffen individueller Freiheit definierten, betrachteten die französischen Revolutionäre den Menschen als ewigen Rebellen.22 Man könnte daher die Ereignisse von 1789 ziemlich genau als satanische Nachahmung der Ereignisse von 1776 beschreiben.23

Im 19. Jahrhundert schritt die Ausbreitung der Industrialisierung in Westeuropa und den Vereinigten Staaten voran. Zur gleichen Zeit brachte diese Epoche intellektuell und moralisch einen intensiven sozialen Idealismus hervor. Wieder kann man eine Kain-Abel-Situation beobachten. Auch diesmal standen die beiden Tendenzen nicht völlig gegensätzlich zueinander. Auf der einen Seite predigten die Propheten des sozialen Fortschritts, daß die Menschheit fähig sein werde, durch Industrialisierung, wissenschaftliche Forschung und städtische Kultur einen Himmel auf Erden zu schaffen. Auf der anderen Seite warnten wenigstens einige weitsichtige Propheten der sozialen Gerechtigkeit, daß die technologische Revolution moralische Standards unterminieren, den Menschen entmenschlichen und zahlreiche soziale Mißstände hervorbringen werde.

Heute wird oft Karl Marx dafür gepriesen, gesagt zu haben, daß die frühere Philosophie dem Menschen nur gezeigt habe, die Welt zu interpretieren, während sie nun erklären müsse, wie die Welt zu verändern sei.24 In dieser Feststellung lag nichts besonders Originelles. Das 19. Jahrhundert war voll von sozialen Reformern, die die Defekte ihrer Zeit erkannten und etwas dagegen taten. Nicht-Marxisten waren es, die die Sklaverei abschafften und den Sklavenhandel verboten, die das Wahlrecht erweiterten, Gesetze gegen Kinderarbeit in den Fabriken erließen und für die Rechte der Arbeiter kämpften. Der Unterschied zwischen diesen Reformern und den Kommunisten bestand darin, daß die erstgenannten zu klug waren, anzunehmen, daß Utopia geschaffen werde, wenn man das Recht auf Privateigentum aufhöbe und einen allmächtigen Staat unter der diktatorischen Kontrolle einer marxistischen Elite einrichtete.25

Die Neuzeit brachte nochmals ein Paar rivalisierender Ideologien hervor: Nationalismus und Imperialismus. Die Nationalisten behaupteten die Einzigartigkeit der Werte, die in ihrer besonderen Sprache, ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrem rassischen Genius zu finden seien.26 Im 19. Jahrhundert beanspruchten die Ungarn, die Tschechen, die Serben, die Griechen, die Araber, die Mexikaner und andere ihre nationalen Rechte gegen ihre jeweiligen imperialistischen Herrscher. Wie Woodrow Wilson auf der Friedenskonferenz von Versailles verkündete, hat jede nationale Minderheit ein Recht auf Selbstbestimmung.

Zur gleichen Zeit wurden die großen Mächte aggressiv imperialistisch. Zuerst schufen die Portugiesen und Spanier riesige Übersee-Imperien. Die Engländer und Franzosen folgten ihrem Beispiel und errichteten sogar noch immensere Kolonialreiche. Wie zu erwarten gewesen war, führten die Konflikte zwischen den Nationalisten und den Imperialisten zwingend zum Ersten Weltkrieg.

Durch diese rivalisierenden Ideologien - Renaissance-Humanismus, Protestantismus, Rationalismus, Pietismus, Demokratie, Technokratie, Nationalismus und Imperialismus - kann man einiges lernen. Den „Göttlichen Prinzipien" zufolge bedient sich Gott ihrer, um die Menschheit äußerlich wie innerlich auf den Anbruch des Neuen Zeitalters vorzubereiten. Jede war ein Schritt hin zur Wiederherstellung und Vervollständigung des göttlichen Schöpfungszieles. Der Imperialismus löste indirekt eine weltweite christliche Missionstätigkeit aus und zielte darauf ab, den Horizont der Menschen so zu erweitern, daß er die ganze Erde umfaßt. Renaissance und Aufklärung erinnerten die Menschen daran, daß Gott eine gute Erde für sie geschaffen hat, und ermutigte sie, sich ihrer Wohltaten zu erfreuen. Die Amerikanische Revolution bekräftigte den Wert jeder einzelnen Person, und die französischen Revolutionäre enthüllten klar die Notwendigkeit weiterer sozialer Reformen. So zeigt jede Strömung der Neuzeit die Wichtigkeit des menschlichen Anteils an Verantwortung für das Kommen des Reiches Gottes.

GLOBALE KATASTROPHEN UND WIEDERAUFBAU

Für diejenigen, die vor 1914 aufgewachsen waren, bedeutete der Erste Weltkrieg den praktischen Zusammenbruch von allem, was sie bis dahin für das Kostbarste gehalten hatten. Tillich bemerkte einmal, daß der Krieg das Ende der protestantischen Ära bedeutet habe. Barth erklärte, daß er allen Glauben in das liberale Christentum seiner Lehrer verloren habe, die, wie er entdeckte, die militaristische Politik Kaiser Wilhelms II. begeistert unterstützt hatten. Papst Pius X., so ging das Gerücht, starb an einem gebrochenen Herzen, als er hörte, daß Europa sich in den Krieg gestürzt hatte.

Erzherzog Ferdinand, Erbe des Habsburger-Thrones, wurde am 28. Juni 1914 ermordet. Als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, rief Serbien das zaristische Rußland zu Hilfe, Rußland, Frankreich, Großbritannien und Italien mobilisierten, um gegen die Achsenmächte zu kämpfen: gegen Österreich, Deutschland und das Osmanische Reich, regiert vom türkischen Sultan. Da die meisten Großmächte überseeische Kolonien in Asien und Afrika hatten, brach ein weltweiter Kampf aus. Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg stärkte die Entschlossenheit der Alliierten und führte zu einem siegreichen Angriff auf Deutschland.

Der erste Weltkrieg dauerte nur vier Jahre, doch seine Wirkungen waren für alle Beteiligten katastrophal. Die Hohenzollem, die Habsburger, die Osmanen sowie die Rumänische Dynastie wurden gestürzt, und ihre riesigen Reiche brachen auseinander. Frankreich verlor so viele junge Männer, daß es für lange Zeit verkrüppelt war. Politische Grenzen auf der ganzen Welt wurden auf dramatische Weise verändert. Als der französische Nobelpreisträger und Dichter Paul Valery gefragt wurde, was der Krieg gezeigt haben, antwortete er, nun hätten die Menschen erkannt, daß ganze Kulturen sterben können. Wenn auch die europäische Zivilisation durch den Ersten Weltkrieg nicht richtiggehend ausgelöscht wurde, so wurde ihre Vitalität doch so schwer beeinträchtigt, daß Europa die alte Rolle als weltweite Führungsmacht nicht zurückerlangen konnte.

Nach den „Göttlichen Prinzipien“ wurde der Kaiser freiwillig oder unbewußt zum Werkzeug Satans. Zumindest entfesselte er dämonische Kräfte, die die Welt verwüsteten und letztlich seinen Thron zusammen mit den Träumen von einem Weltimperium zerstörten. Aus Unbesonnenheit und Eitelkeit machte Wilhelm n, die europäische Weltordnung zu einem Wrack.

Schlimmer noch: Der Erste Weltkrieg bot den Marxisten die Gelegenheit, die Kontrolle über das demoralisierte Rußland zu ergreifen. Wie es sich herausstellte, hatten Briten und Franzosen ganz richtig den Kaiser mit dem Hunnenkönig Attila, der Geißel Gottes, verglichen. Aufgrund der Zerstörungen, des Defätismus und der Ernüchterung infolge des Ersten Weltkrieges konnte der Totalitarismus aufkommen und zur Blüte gelangen. Millionen von Menschen hatten tief gelitten, tapfer gekämpft und waren für das gestorben, was sie aufrichtig für „den Krieg, um allen Krieg zu beenden“ gehalten hatten. Damit - um das in Termini der „Göttlichen Prinzipien“ auszudrücken - leisteten sie genügend Wiedergutmachung, um die Gestaltungsstufe für Gottes endgültige Vorsehung zu errichten.27

Der Versailler Vertrag streute lediglich die Saat für den Zweiten Weltkrieg aus. Als es offensichtlich wurde, daß der Völkerbund Aggressoren nicht aufhalten konnte, eroberten japanische Truppen die Mandschurei von der Republik China (1931), und das faschistische Italien besetzte Abessinien (1936). In der Zwischenzeit annektierten die Nazis Österreich, besetzten einen Teil der Tschechoslowakai und warfen ein Auge auf Polen. Vom Herbst 1939 bis zum Spätsommer 1945 tobte der Zweite Weltkrieg.

Zahlreiche politische, ökonomische, soziale und psychologische Studien sind über den Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus geschrieben worden. Gemäß den „Göttlichen Prinzipien“ bot Kaiser Wilhelm der Welt eine satanische Karikatur der Sendung Adams, sich selbst in jeder Hinsicht zu vervollkommnen und Herrschaft über die ganze Welt auszuüben. Wie der deutsche Kaiser war Hitler entschlossen, die Welt zu regieren. Doch der Nazi-Plan zur Erlangung der Weltherrschaft hatte etwas weit Monströseres. Versprach Hitler nicht etwas ähnliches wie das messianische Reich zu errichten? Er sprach über die Deutschen als das auserwählte Volk und wählte ganz bewußt alttestamentliche Begriffe. Das Dritte Reich sollte tausend Jahre währen, als ob es das langerwartete Tausendjährige Reich sei. Ferner sah er sich selbst eindeutig als den Messias an, der imstande sei, die Neue Ordnung zu schaffen, ein irdisches Paradies für seine Anhänger. Aus diesen Gründen sehen die „Göttlichen Prinzipien“ in Hitler, welcher der Menschheit einen dämonischen Ersatz für das Himmelreich anbot, eine satanische Imitation Jesu.

Der Erste Weltkrieg lieferte den Marxisten die erste politische Basis, von der aus sie die Sache des Materialismus, des ökonomischen Determinismus und des Totalitarismus vorantreiben konnten. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges konnte Stalin die Grenzen des kommunistischen Herrschaftsbereiches enorm ausdehnen. Die Sowjetunion wurde schnell die größte Einzehnacht im gesamten eurasischen Bereich; und binnen ganz weniger Jahre konnte dank ihrer Unterstützung in China ein kommunistisches Regime die Macht erringen. Marxisten glaubten stets, daß die Welt früher oder später vom Kommunismus beherrscht würde und haben demgemäß gehandelt.

In einer Zeit, in der es um apokalyptisches Gericht oder endzeitliche Verheißung geht, haben die Christen eine Verpflichtung. Erstens müssen Christen untereinander und mit allen gläubigen Menschen zusammenarbeiten. Nur eine geeinte Kirche kann eine geteilte Welt heilen und retten. Doch solche Einheit bedeutet nicht, einen einheitlichen Ritus für den Gottesdienst zu verordnen oder die Annahme irgendeines Credos zu erzwingen. Die Christen müssen sich vereinen, um das Königtum Gottes auf Erden voranzubringen. Alles andere ist sekundär.

Ferner: Alle Christen sollten ihren Geist und ihre Herzen für Gottes einmalige Botschaft in unserer Zeit öffnen. In Jesu Zeiten kam die schlimmste Opposition nicht von bösen Menschen, sondern von den Wächtern der althergebrachten Religion. Wie die Evangelien ausführen, wurde Jesus dauernd von den professionellen religiösen Führern, den Sadduzäem und Pharisäern, kritisiert. Deshalb sollte niemand über uns das gleiche wie über jene sagen können, daß sie Ohren hatten und doch nicht hören konnten, Augen und doch nicht sehen konnten. Möge Gott jeden von uns mit Seiner Wahrheit für unsere Zeit erleuchten.

Zum 8. Kapitel  Wiederkunft

Anmerkungen
1 R.H. Charles, Apocrapha and Pseudepigrapha of the Old Testament, 2 Bände (1913);
G. Vermes. Dead Sea Scrolts (1962).
2 Hennecke/Schneemelcher, Neutestamendiche Apokryphen (engl.Ausg.1965), Bd.ll.
3 W. Schmithals, Die apokalyptische Bewegung (engl.1975).
4 A. Harnack. Dogmengeschichte. Bd. 1,101.
5 C.L Feinberg (Hg.). Jesus the King is Coming (1973).
6 K. Barth, Kirchliche Dogmatik 11/1 (eng. 1958) 631-638; Wort Gottes und menschliches Wort (1928).
7 R. Bultmann, Gegenwart des Ewigen (engl. 1962).
8 J.B. Metz. Theologie der Welt (engl. 1973).
9 Die Göttlichen Prinzipien (1972). 273-277.
I0 J.L Crenshaw. Gerhard von Rad (1978). 158.
11 Vgl. K.S. Latourette, Thousand Years of Uncertainty (1970),286-288.
12 Vgl. H. Fichtenau, The Carolingian Empire (1964); Einhard. Life of Charlemagne. (1960); A. Cabaniss, Charlemagne (1972).
13 E. Berkovits. Crisis and Faith (1976). Vorwort
14 J.H. Randall. The Making of the Modern Mind (1976). 111-248.
15 Victor Frankl, The Unconsious God (1975), 56.
16 Der Dreißigjährige Krieg in Deutschland, der 1648 endete, der niederländische Unabhängigkeitskrieg mit Spanien, der englische Bürgerkrieg, der zu Cormwells Protektorat führte, und die frühe hussitische Aufstand in Böhmen.
17 Sir Isaak Newton war der hervorragenste Wissenschaftler der Aufklärungszeit.
18 Der englische Philosoph John Locke (gestorben 1704).
19 „Vor allem die Frömmigkeit muß im Herzen wohnen“ - Prof. Joachim Feller, Universität Leipzig (1689).
20 D. Brown. Understanding Pietism (1978).9-28; F.E. Stoeffler (Hrsg.), Continental Pietism and Early American Christianity (1976).
21 C. Dawson. The Gods of Revolution (1972).
22 A. Camus. The Rebel (1956).
23 Edmund Burke und Joseph de Maistre.
24 E. Voegelin, From Enlightenment to Revolution (1975).
25 Bernard-Henri Levy, Die Barbarei mit menschlichem Antlitz (engl. 1979).
26 L. Snyder. The New Nationalism (1968).
27 Die Göttlichen Prinzipien, 520.